mit Lars Becker,
Co-Koordinator der “No-Veto-Kampagne”,
ein.
Die EU handlungsfähiger zu machen, ist neben der Demokratisierung eine der Fragen, die uns als Föderalist:innen vielleicht am meisten umtreibt. Dass die EU häufig nicht in der Lage ist, schnell und entschlossen auf Herausforderungen zu reagieren und Handlungsmacht nach innen und nach außen zu beweisen, liegt dabei unter anderem auch am Einstimmigkeitsprinzip. Denn trotz einiger Reformen bei zurückliegenden Änderungen der EU-Verträge, gilt dieses in vielen zentralen Politikbereichen weiterhin fort. Dadurch hat jedes einzelne Mitgliedsland de facto ein Veto-Recht und kann Entscheidungen aufhalten oder verhindern – und die EU damit effektiv lähmen. Dies zu ändern ist das Ziel der “No-Veto-Kampagne”, mit der sich JEF und Europa-Union Deutschland gemeinsam mit Pulse of Europe und Alliance4Europe für eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips stark machen.
Am Donnerstag werden wir Lars Becker, den Co-Koordinator der Kampagne, zu Gast haben, der uns online aus Hamburg zugeschaltet sein wird. Von ihm wollen wir zunächst erfahren, zu welchen Verwerfungen das Veto-Recht der Nationalstaaten in der Vergangenheit geführt hat. Welche konkreten Entscheidungen haben sie verzögert oder verhindert? Auf welche Weise hat das Einstimmigkeitsprinzip die EU verwundbar für Einflussnahme von Außen gemacht?
Im weiteren Verlauf werden wir dann über die Kampagne selbst sprechen: In welchem Kontext wurde sie gestartet? Was sind die bisherigen Erfolge? Wie geht es jetzt weiter – und was kann unsere Rolle dabei sein?
Auch die naheliegenden kritischen Fragen wollen wir thematisieren: Ist angesichts einer schwierigen politischen Gemengelage jetzt nicht der falsche Zeitpunkt, eine solche Debatte anzustoßen? Und ist das Unterfangen nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt, angesichts der Tatsache, dass einer Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips am Ende wiederum alle Mitgliedsstaaten zustimmen müssten? Wie, wenn überhaupt, kann es gelingen, die EU aus dem Würgegriff der nationalen Einzelinteressen zu befreien?
Um all diese Fragen soll es beim Europa-Abend gehen – wir würden uns freuen, wenn Du dabei wärst und mitdiskutieren würdest! Wie immer kannst Du gerne auch noch Freunde oder Bekannte dazu einladen, vorbeizukommen oder sich online zuzuschalten.
November 2019, wenige Wochen vor Weihnachten: Mitten in Europa, in einem Land in unmittelbarer Nachbarschaft der EU, ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Auf der einen Seite die Getreuen des alten Regimes, auf der anderen Seite die Anhänger*innen der neuen, pro-europäischen Regierung, die ihre Hoffnungen in die EU setzen und auf ein klares Signal der Unterstützung aus Brüssel warten. Das aber bleibt vorerst aus. Angesichts der für außenpolitische Beschlüsse erforderlichen Einstimmigkeit hat die EU Schwierigkeiten, zu einer gemeinsamen Position zu finden, wieder einmal. Wird das Treffen der Außenminister*innen am letzten Wochenende im November endlich den Durchbruch bringen?
Die Umstände kommen einem vertraut vor – doch es waren nicht die echten Außenminister*innen der EU-Mitgliedsstaaten, die da im Rat für Auswärtige Angelegenheiten zusammenkamen, um über den Konflikt zu beraten. Es waren die Teilnehmer*innen des Planspiels “Krise in Sylduvien – was tut die EU?”, das wir von der JEF Marburg am 30. November 2019 gemeinsam mit dem Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik an der Philipps-Universität ausrichteten.
Vorausgegangen waren mehrere Wochen der intensiven Vorbereitungen: Mit unserem kleinen, engagierten Team hatten wir Flyer verteilt, an allen möglichen und unmöglichen Orten Plakate aufgehängt und uns zu vorgerückter Stunde an WG-Küchentischen den Kopf über die Überarbeitung der Planspielunterlagen zerbrochen, während unbeteiligte Mitbewohner*innen in ihre Zimmer geflüchtet waren.
Als schließlich 16 Teilnehmer*innen aus Bamberg, Darmstadt, Frankfurt und Marburg den Weg ins Hörsaalgebäude der Marburger Uni fanden, um sich der Aufgabe zu stellen, als EU-Außenminister*innen oder Vertreter*innen einer der Konfliktparteien die Krise in Sylduvien zu lösen, wussten wir: Die Arbeit hatte sich gelohnt.
Keine einfache Gemengelage also, der sich die Außenminister*innen gegenüber sahen.
Nach einer inhaltlichen Einführung in die EU-Außen- und Sicherheitspolitik stellten wir den Teilnehmer*innen das Planspielszenario vor: In Sylduvien, einem fiktiven europäischen Staat außerhalb der EU, ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Nach einem Regierungswechsel hat die neue Regierung Sylduviens das Handelsabkommen mit seinem autoritär geführten Nachbarland Bordarien aufgekündigt und bekanntgegeben, das Land stärker in Richtung der EU orientieren zu wollen. Dies löste Proteste der bordarisch-sprachigen Sylduvier*innen im Südosten des Landes aus, die als Reaktion auf die Entscheidung der Regierung nun mit Waffengewalt für eine Abspaltung ihres Landesteiles kämpfen. Ihnen gegenüber stehen die pro-europäischen Anhänger*innen der neuen Regierung. Die Lage ist unübersichtlich; insbesondere ist umstritten, welche Rolle Bordarien spielt. Hat das Land die Auseinandersetzung angeheizt?
Keine einfache Gemengelage also, der sich die Außenminister*innen gegenüber sahen. Ihre Aufgabe war es, sich im Ministerrat in wenigen Stunden einstimmig auf einen Beschluss zu einigen, der folgende Punkte enthalten sollte:
Eine Beurteilung der Vorkommnisse
Forderungen an die Konfliktparteien
Eine Entscheidung über die Verhängung von Sanktionen
Und so schlüpften die Teilnehmer*innen in ihre Rollen und diskutierten mal in informellen Runden, mal im EU-Außenministerrat über Handlungsalternativen und Lösungsansätze für die Situation in Sylduvien. Dabei gingen alle so sehr in ihren Rollen auf, dass sogar die mittägliche Pizza-Pause äußerst kurz ausfiel. Man hatte ja schließlich eine internationale Krise in Europa zu lösen!
Trotz des auferlegten Zeitdrucks endete das Planspiel einige Stunden und viele Gespräche später nach einer Abschlusssitzung des EU-Außenministerrates dann auch tatsächlich mit einem gemeinsamen Beschluss! Allerdings: Obwohl es klare Hinweise darauf gab, dass Bordarien den Konflikt befeuert und die Separatist*innen militärisch unterstützt hatte, konnte man sich im im Rat nicht auf eine eindeutige Verantwortungszuweisung einigen – zu unterschiedlich die Lesarten des Konflikts. Die Beteiligung der Konfliktparteien sei “noch nicht abschließend geklärt”, so der Beschluss; man verurteile die Gewaltanwendung “durch alle Beteiligten” scharf und fordere diese zum Gewaltverzicht auf. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Auffassungen verwunderte es dann auch nicht weiter, dass der Rat eine Entscheidung über Sanktionen aus dem Weg ging. Es bestehe “bislang noch kein Konsens über gemeinsame Sanktionen”, stellte der Beschluss in schöner Parallelität zu so manchem Beschluss der realen EU-Politik fest. Überraschend war dann jedoch, dass der Rat die Entsendung einer Beobachtermission in die Krisenregion beschloss – eine interessante Option, die wir im Organisationsteam des Planspiels so vorab gar nicht vorhergesehen hatten.
Wie effektiv kann europäische Außenpolitik angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen nationaler Souveränität und dem Ziel eines gemeinsamen Auftretens nach Außen tatsächlich sein?
Nach der letzten Sitzung legten die Teilnehmer*innen ihre Planspielrollen wieder ab und wir reflektierten gemeinsam den Verlauf des Planspiels, diskutierten die Parallelen zur Realität und die Schwierigkeiten einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU, die auch im Planspiel deutlich zu Tage getreten waren. Wie effektiv kann europäische Außenpolitik angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen nationaler Souveränität und dem Ziel eines gemeinsamen Auftretens nach Außen tatsächlich sein? Sollte der Zwang zur Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen abgeschafft und durch das Mehrheitsprinzip ersetzt werden, damit die EU in die Lage versetzt wird, insbesondere bei sich kurzfristig zuspitzenden weltpolitische Krisen und Konflikten schnell und entschieden zu handeln? Eine Frage, über die es auch im Kreis der Teilnehmer*innen des Planspiels unterschiedliche Auffassungen gab.
Unser Fazit am Ende der Veranstaltung: Sie war ein voller Erfolg! Wir bedanken uns bei Allen, die mitgespielt und das Szenario zum Leben erweckt haben. Besonderer Dank gilt unserem Kooperationspartner, dem Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik an der Philipps-Universität Marburg, für die stets gute und unkomplizierte Zusammenarbeit.